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Interview und Minimalismus-Tipps in der HAZ – „Es geht um das Finden des richtigen Maßes“

„Es geht um das Finden des richtigen Maßes“ – Interview von Daniel Behrendt im Januar 2023

Die Minimalistin Jasmin Mittag will den 1. Januar mit Gleichgesinnten fortan als „Internationalen Minimalismus-Tag“ begehen, um Bewusstsein für einen ressourcenschonenden und entschleunigten Lebenswandel zu wecken. Im Gespräch erläutert die 44-Jährige Hannoveranerin, warum Minimalismus aus Ihrer Sicht dein Schlüssel zu persönlichem Lebensglück und ein Lösungsansatz für die Krisen dieser Zeit ist.

Frau Mittag, Sie wollen den 1. Januar gemeinsam mit anderen Minimalisten erstmals als „Internationalen Minimalismus-Tag“ begehen. Was beabsichtigen Sie damit?

Wir stellen den Tag unter das Motto „Leben statt Konsumieren“ – und wollen damit ein Bewusstsein schaffen, wie sehr unser Leben gerade in den westlichen Gesellschaften von einem regelrechten Konsumzwang beherrscht wird – und wie unfrei uns das macht. Wir kaufen Kleidung, die wir nicht tragen, besitzen zahllose Dinge, die wir nicht nutzen. Wir arbeiten unentwegt, um uns noch mehr leisten zu können. Zugleich sorgen wir uns um unseren Besitz, haben Verlustängste. Wir sind durch die Digitalisierung unentwegt und zunehmend mit Geräten und Kommunikation beschäftigt. Wir sind in einem Hamsterrad gefangen – und viele Menschen wünschen sich eigentlich ein ganz anderes, von Zwängen befreites Leben, wissen aber nicht, wie sie das erreichen sollen. Diese Menschen wollen wir abholen.

Und wie?

Wir wollen zeigen, dass der Schlüssel zu einem freieren und erfüllteren Leben in der Besinnung auf tiefere Bedürfnisse liegt: auf mehr selbstbestimmte Lebenszeit, auf Entschleunigung, auf mehr Einklang mit sich und anderen und auf einen achtsamen Umgang mit den eigenen Ressourcen – und denen der Umwelt.
Ähnlich der Fastenaktionen bieten wir im Januar Impulse, sogenannte Wegweiser an, bei denen Interessierte für einen Zeitraum von 11, 22 oder 33 Tagen Übungen zu einem minimalistischen Lebensstil absolvieren können. Das eigene Konsumverhalten zu beobachten und sich auf die Erfüllung von Grundbedürfnissen zu fokussieren und exzessiven Konsum von zum Beispiel Dingen, digitalen Medien aber auch Lebensmitteln zu vermeiden gehört dazu.

Wie haben sie Ihr Leben auf der Suche nach dem Wesentlichen „entrümpelt“?

Mich inspiriert der Austausch mit Gleichgesinnten sehr. Deswegen habe ich 2015 angefangen den Minimalismus-Stammtisch in Hannover zu organisieren. Ich persönlich habe die verschiedensten Übungen zum Aussortieren und Loslassen ausprobiert und so langsam immer weniger Besitz um mich herum gehabt. Dazu gehörte zum Beispiel die Farben meiner Kleidungsstücke in meinem Kleiderschrank auf vier Farben zu reduzieren, damit alles zusammen passt.
Besonders effektvoll war für mich die sogenannte „Tabula Rasa-Methode“. Man entfernt hierbei alles aus einem Bereich – das kann eine Schublade, ein Schrank, ein Zimmer sein – und beobachtet, was man vermisst und sich wieder zurückholt. Alles, was man sich nach einer gewissen Zeit, zum Beispiel einem halben Jahr – nicht vermisst hat, benötigt man nicht mehr.
Ich habe 2019 diese Methode so wie in der deutschen Komödie „100 Dinge“ auf mein ganzes Hab und Gut angewendet und alle meine Sachen in den Keller gebracht und mir jeden Tag erlaubt, ein Teil zurückzuholen. Allerdings habe ich mit wie Florian David Fitz und Matthias Schweighöfer mit 0 Dingen, sondern mit 11 Dingen angefangen, dazu gehörte vor allem Kleidung und meine Arbeitsgeräte.
So war zu Beginn ein Teller Beispiel nicht mehr drin, also habe ich mich von Fingerfood ernährt (lacht). Ich merkte dann, dass schon so um die 50 Gegenstände notwendig sind, um die Grundbedürfnisse einigermaßen komfortabel abzudecken.

Gibt es einen Gegenstand, der selbst bei der kleinsten Auswahl immer mit dabei wäre?

Ja, „Icebat“, meine Stofffledermaus. Sie ist mein Begleiter auf Reisen und hat einen hohen emotionalen Wert für mich, weil ich immer direkt gute Laune bekomme, wenn ich Icebat anschaue, und repräsentiert meine alberne Seite. Im Minimalismus geht es eben auch darum, herauszufinden, was jetzt in diesem Moment zu einem gehört. Es geht um das Finden des richtigen Maßes, bei dem innere Freiheit, Spontanität und eine echte, auf Dankbarkeit und Genügsamkeit basierende Beziehung zur Mitwelt möglich sind. Minimalismus ist lebenspraktisch, aber auch emotional – und durchaus spirituell.

Also erlaubt Minimalismus auch Dinge, die unter pragmatischen Gesichtspunkten eigentlich überflüssig sind?

Klar. Minimalismus inspiriert, herauszufinden, was für einen selbst wirklich eine Bedeutung im Leben hat. Das sind am Ende mit großer Wahrscheinlichkeit keine Dinge. Die Gegenstände sind nur Mittel zum Zweck und haben ja immer nur den Wert, den wir ihnen zuschreiben. Wir Minimalisten wollen uns von den Erwartungen der konsumorientierten Überflussgesellschaft befreien.
Dabei gilt nicht die Maxime „Weniger ist mehr“, sondern „Fokus auf für mich Wichtiges“. Wenn es für mich wesentlich ist, eine große Büchersammlung zu haben, spricht das von meinem Verständnis her nicht gegen Mminimalismus als Lebensstil.
Was aber problematisch ist, ist das Konsumieren um des Konsumierens willen – sei es, dass man das 28. T-Shirt kauft, obwohl man gerade einmal vier trägt. Oder sei es, dass man es nicht mal lassen kann, ständig alle Sozialen Netzwerke zu checken, aus der Angst, etwas zu verpassen.

Inwieweit hat ihre Minimalismus-Erfahrungen Auswirkungen auf ihren Lebensweg?

Mein derzeitiger Besitz passt in zwei Handgepäckstücke. Ich habe meine Wohnung in Hannover aufgegeben – obwohl ich die Stadt liebe. Aber das Gefühl, beweglich zu sein, hat mir Lust aufs Erkunden von anderen Wohn- und Lebensformen gemacht. (Hier bitte noch ein paar Länder, in denen du schon warst – oder demnächst willst) So habe ich in im letzten Jahr u.a. in Co-Living-Spaces in Mexiko, in einer Kommune in Portugal, in einer Schweigegemeinschaft in England und in einem Tiny House auf Bali gewohnt. Ich genieße es, dass ich keinen Hausstand mit mir rumschleppen muss und dadurch flexibel bin.
Eine Herausforderung ist für mich als Künstlerin und Aktivistin meine Arbeit standortunabhängig zu gestalten, da kommt mir natürlich die Digitalisierung entgegen. Zurzeit arbeite ich vor allem an einer Minimalismus Community-Plattform, produziere Podcasts und berate Unternehmen und Minimalismus-Interessierte. Zudem fotografiere ich im Rahmen von meinem Projekt „the one thing“ Menschen überall auf der Welt mit ihrem Lieblingsgegenstand. So kann ich, wie gerade jetzt, im deutschen Winter von Thailand aus arbeiten.

Wer weniger beansprucht, ist freier von Erwerbsarbeit – schont aber auch persönliche und vor allem natürliche Ressourcen. Ist Minimalismus angesichts von Klimawandel und Ressourcenverschwendung sowie von Mangellagen wie der aktuellen Energiekrise auch ein politisches Konzept, gar ein Lösungsansatz?

Ja, durchaus. Zwar setzt das Konzept beim individuellen „Entrümpeln“ des eigenen Lebens an – aber die daraus resultierende Konzentration auf tiefere Bedürfnisse und die wenigen Dinge, die für ihre Erfüllung notwendig sind, verändert den Blick auf größere Zusammenhänge radikal. Wer begriffen hat, dass ein bescheideneres Leben ein reicheres sein kann und die Menschheit eine große Gemeinschaft ist, wird den Überkonsum, die Ausbeutung von Arbeitskräften und die Zerstörung unseres Planeten nicht mehr akzeptieren und durch sein Handeln gegensteuern. Würden das die Mehrheit der Menschen so empfinden und leben, würde kein Müll mehr in die Ozeane gekippt, kein Kleidungsstück mehr produziert, das am Ende niemand trägt, und wenn wir uns stärker als große Gemeinschaft erleben und spüren würden, würde es wahrscheinlich auch keine Kriege mehr geben.

Der Januar ist für viele Menschen ein Monat des Verzichts. So trinken einige vier Wochen lang keinen Alkohol, andere ernähren sich wiederum ohne Fleisch und tierische Produkte. Jasmin Mittag aus Hannover lebt das ganze Jahr bewusst mit Entbehrungen. Sie ist Minimalistin und zufriedener denn je.

Überflüssiges ausmisten, Freiraum schaffen, zu sich finden: Mit ein paar Grundregeln gelingt der Weg zu einem aufgeräumten und ausgeglichenen Leben, davon ist die Minimalistin Jasmin Mittag überzeugt. „Minimalismus leben heißt, bewusster nach den eigenen Bedürfnissen zu fragen, bewusstere Entscheidungen zu treffen und eine bewusstere Beziehung zu Menschen und Dingen einzugehen“, erläutert die 44-Jährige aus Hannover, deren aktueller Besitz in zwei Handgepäckstücke passt. Menschen, die erste Minimalismuserfahrungen sammeln wollen, gibt die Expertin sechs Grundregeln an die Hand:

1. Bewusster Konsum
„Minimalismus beginnt mit bewusstem, nachhaltigem Konsum“, erklärt Jasmin Mittag. Deshalb sollten vor jeder Anschaffung drei Fragen stehen: Brauche ich das wirklich? Gibt es das auch gebraucht? Und: Wen und was unterstütze ich mit meinem Kauf? Auch rät die Minimalistin dazu, zunächst eine Liste für die Kaufwünsche anzulegen. „Danach gehe ich nicht gleich ins Geschäft, sondern lasse den Wunsch ein wenig ruhen. Meist erlischt das Kaufinteresse dann.“

2. Finanzen
„Wer mit wenig Geld auskommt, kann sein Leben freier gestalten“, sagt Jasmin Mittag. Die Hannoveranerin empfiehlt ein klassisches Haushaltsbuch, um herauszufinden, in welchen Bereichen mehr Sparsamkeit möglich ist. Auch rät Mittag dazu, lieber mit Bargeld als auf elektronischem Weg zu bezahlen: „Dann wird uns wirklich bewusst, wie viel Geld durch unsere Hände geht.“ Ihr Portemonnaie bestückt sie stets nur mit der Summe, die sie auszugeben gedenkt. „Das schützt vor Spontankäufen.“

3. Aussortieren und loswerden
Jasmin Mittag empfiehlt hier zu eine Methode der japanischen Aufräumexpertin Marie Kondo: „Sie rät dazu, beim Ausmisten mit Kleidung, Büchern und Tonträgern anzufangen.“ Zunächst werden dabei alle Gegenstände einer Kategorie zusammengesammelt. Jedes Stück wird anschließend unter der Frage begutachtet: Bringt es mir Freude? Wird die Frage verneint, kann das betreffende Stück aussortiert werden. „Dabei gilt aber, nicht einfach nur wegzuschmeißen, sondern alle noch gut nutzbaren Dinge einem sinnvollen Zweck zuzuführen“, betont Mittag – und rät dazu, Aussortiertes zu verschenken oder an Sozialkaufhäuser zu geben.

4. Garderobe reduzieren
„Alle Klamotten, die ein Jahr lang nicht getragen worden sind, können weg“, formuliert Jasmin Mittag die Grundregel für den Kleiderschrank. Zudem empfiehlt sie, sich bei der Garderobe auf wenige Farben zu beschränken. „Dann passt alles zu allem – und für Abwechslung und Farbakzente sorgen ein paar sorgsam gewählte Accessoires.“

5. Digitale Achtsamkeit
„Besonders soziale Netzwerke und Messenger binden unsere Aufmerksamkeit – und halten uns oft von produktiveren, schöneren Erfahrungen ab“, sagt Jasmin Mittag. Sie rät dazu, Pushnachrichten zu deaktivieren und sich bildschirmfreie Zeiten und Zonen, wie etwa das Schlafzimmer, einzurichten. Zudem empfiehlt die Minimalistin, die Bildschirmzeiten mit speziellen Apps im Blick zu behalten und sich ein Limit zu setzen. „Die so eingesparte Zeit darf dann umso bewusster genossen werden: etwa bei einem Spaziergang in der Natur, einem guten Gespräch oder dem Kochen eines leckeren Mahls.“

6. Ernährung
„Auch eine gesunde, ökologisch und ethisch saubere Ernährung gehört zum Minimalismus“, erklärt Jasmin Mittag. Deshalb sei ein regionaler und saisonaler Einkauf auf dem Wochenmarkt dem Discounter vorzuziehen. „Mit einem mitgebrachten Einkaufsbeutel lassen sich dort auch gut Plastikverpackungen vermeiden.“

7.01.2023 – Hannoversche Allgemeine Zeitung – Daniel Behrendt