Das Interview erschien im November 2021 im Journal für Philosophie „weiter denken“, herausgegeben vom Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Die ganze Ausgabe zum Thema Wohnen kann hier eingesehen werden: weiter denken Ausgabe 02 /2021
Sicher nicht ganz zufällig haben Sie im Juni 2020 – also nach der ersten Corona-Welle – mit ihrem Podcast „Minimalismus JETZT“ angefangen. In welchem Zusammenhang steht für Sie die Frage des Wohnens mit dem Minimalismus? Und inwiefern glauben Sie, hat die Corona-Krise unseren Blick auf private Wohn- und Besitzverhältnisse verändert?
Minimalismus als Lebensstil inspiriert uns, in sämtlichen Lebensbereichen zu überprüfen, was jetzt in diesem Moment wirklich wichtig für uns ist. Das fängt in der Regel beim Hab und Gut an und läuft im Endeffekt auf die Frage hinaus, wofür ich meine Ressourcen aufwenden möchte. Dazu gehören nicht nur mein Besitz und meine finanziellen Mittel, sondern z.B. auch meine Liebe, meine Energie und meine Zeit. Diese Kräfte spielen alle zusammen. Wie wir wohnen ist ganz eng mit der Ressourcenfrage verknüpft: Wieviel Wohnraum habe ich und was muss ich für die Pflege tun? Teile ich meinen Wohnraum und was bedeutet das in der Praxis? Inwiefern bindet mich meine Wohnsituation und geht das mit anderen Vorstellungen von mir einher? Ein ganz simples praktisches Beispiel: Als ich von einer geteilten Vier-Zimmer-Wohnung alleine in ein Ein-Raum-Appartement gezogen bin, habe ich viel Zeit beim Putzen eingespart, die ich nun anders einsetzen kann. Es hat mir aber auch niemand mehr Lebensmittel mitgebracht oder eine Mahlzeit mitgekocht. Wie wir leben beeinflusst, wie wir tagtäglich unsere Ressourcen einsetzen. Minimalismus mit der Leitidee „Fokus auf Wesentliches“ möchte uns in dem Zusammenhang anregen, uns eine Wohnsituation zu schaffen, die generell unseren Bedürfnissen und Wünschen entgegenkommt.
Ich persönlich hatte einen Schlüsselmoment als mir die einfache Rechnung aufgegangen ist: Mit weniger Dingen brauche ich nicht so viel Wohnraum und muss nicht so viele Finanzen dafür aufbringen, was am Ende dazu führen kann, dass ich weniger Erwerbsarbeit nachgehen muss und ein freierer Mensch bin.
In meiner Wahrnehmung haben uns die Maßnahmen aufgrund des Corona-Virus in besonders starkem Maße auf die Gegebenheiten zurückgeworfen, die wir uns selber geschaffen haben: so auch auf unseren Wohnraum. Das führt natürlich nochmal zu einer besonders intensiven Betrachtung der eigenen Wohnsituation und von dem, was uns umgibt. In Deutschland haben die Menschen 2020 z. B. so viele Dinge aussortiert, dass die Kleiderspende und Wertstoffhöfe zum Teil überlastet waren.
Ich selber habe mich – nachdem ich ein knappes Jahr viel mehr Zeit als sonst in meiner Einzimmerwohnung verbracht habe – kurzerhand dazu entschlossen, mein restliches Hab und Gut loszuwerden, meine Wohnung zu kündigen und digitale Nomadin zu werden.
Der Begriff „Nomade“ kommt aus dem Altgriechischen und kann mit „herumschweifen“ übersetzt werden. Er findet sich in konträren Verwendungen wie „Mietnomaden“, „Arbeitsnomaden“ oder „digitalen Nomaden“, bei denen je eine gewisse Ächtung als auch Romantisierung mitschwingt. Seit April 2021 haben Sie für sich eben jene Lebensform des digitalen Nomadentum gewählt. Was verbinden Sie mit diesem Konzept und was bedeutet das für Sie konkret?
Rein von der Bedeutung her sprechen wir von Menschen, die beruflich standortunabhängig agieren können, da sie in ihrem Arbeitsalltag hauptsächlich auf digitale Medien und das Internet zurückgreifen. Die Verlagerung von vielen Tätigkeiten auf das Homeoffice hat gezeigt, dass standortunabhängiges Arbeiten in sehr vielen Berufen möglich ist, als Angestellte genauso wie als Freelancer*in oder Unternehmer*in. Digitale Nomad*innen nutzen diese Möglichkeit, um nach Bedarf bzw. Lust und Laune ihren Wohn- und Arbeitsort zu wechseln. Dabei reisen die meisten minimalistisch, in dem Sinne, dass sie nicht allzu viel Dinge dabeihaben, um den Wohnort leichter wechseln zu können.
Ich habe vor ein paar Jahren durch eine Dokumentation das erste Mal etwas von digitalem Nomadentum gehört, aber lange keine Verbindung zu mir selber gesehen, unter anderem weil es mir zu anstrengend erschien, alle paar Wochen den Ort zu wechseln und nebenbei zu arbeiten. Inzwischen ist mir aufgegangen: Das ständige Sachen-packen und Reisen müssen ja auch gar nicht sein. Jede Person macht ihre eigenen Regeln und die meisten digitalen Nomad*innen bleiben drei bis vier Monate oder länger an einem Ort bzw. kehren immer mal wieder zu einer Wahlheimat zurück, was Organisatorisches erleichtert.
Dieser Lebensstil bedeutet vor allem Freiheit, Flexibilität und eine immer wieder bewusste Anpassung an die eigenen Bedürfnisse und die äußeren Umstände. Mittlerweile gibt es an vielen Orten der Welt sehr komfortable Services wie Co-Working-Spaces oder Co-Living-Villen, wo man direkt auf Infrastruktur zugreifen kann, um optimal zu arbeiten und Gleichgesinnte kennenzulernen.
Mir geht es momentan vor allem darum, verschiedene Wohn- und Lebensformen, die einen minimalistischen Ansatz haben, wie eben Co-Living, Leben im TinyHouse oder in einer Kommune, zu erproben. Denn obwohl ich sieben Jahre in meiner Einzimmerwohnung in Hannover gewohnt habe, kannte ich in meinem Haus noch nicht einmal die Hälfte aller Parteien. Es war ein typisch anonymes städtisches Wohnen.
Während des Jahres 2020 bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass wir langfristig neue Formen des Lebens, Zusammenlebens, Arbeitens und auch Denkens finden müssen. Wir sind bisher als Menschheit ja nur soweit gekommen und können von vielen Annehmlichkeiten profitieren, weil wir in Gemeinschaften leben, Ressourcen teilen und uns austauschen. Wir sind soziale Wesen und nicht dafür gemacht, isoliert oder distanziert voneinander zu leben, nur über Bildschirme in Kontakt mit anderen zu treten und uns über Dinge um uns herum zu definieren.
Deswegen teste ich nun Konzepte, die mir zukunftsfähig erscheinen und berichte in meinem Podcast davon. Mir geht es also bei dem Leben als digitale Nomadin, das ich für die nächste Zeit gewählt habe, vor allem darum, meiner Neugierde und gesellschaftlichen Trends nachzugehen, Freiheit zu leben, mich und die Welt zu entdecken und mir neue Möglichkeiten in Bezug auf meine Arbeit zu erschließen.
In Ihrem Podcast wird der Gedanke geäußert, dass prinzipiell jede Person einen nomadischen Lebensstil entwickeln könnte, sofern sie ein „Systemrebell“ sei. Sehen Sie ein gesellschaftskritisches Potential in solch alternativen Lebens- und Wohnformen? Oder fügt sich die Figur der*s digitalen Nomad*in nicht sehr gut in den von Luc Boltanksi und Ève Chiapello beschriebenen „neuen Geist des Kapitalismus“ mit seiner Flexibilisierung der Arbeitsformen und dem Ideal der Selbstverwirklichung im Beruf?
Ich glaube, dass beide Betrachtungsweisen ihre Berechtigung haben. Ja, auf der einen Seite spielt die Flexibilisierung der Arbeitsformen durch Digitalisierung und Standortunabhängigkeit neoliberalen Konzepten in die Hände. Die Fokussierung auf Konsum sehe ich als Minimalistin natürlich kritisch; zur gleichen Zeit finde ich individuelle Freiheit und Eigenverantwortung als Werte wichtig.
Das Zitat aus meinem Podcast stammt von meiner Interviewpartnerin Franzi Friedl. Sie berät Menschen, die nomadisch leben möchten. Sie wollte damit ausdrücken, dass für nahezu jede Berufung nomadische Konzepte entwickelt werden können. Aber am Ende glauben weder sie noch ich, dass Nomadentum für jeden Menschen zu jedem Zeitpunkt ein praktikables Lebenskonzept sein kann.
Ich persönlich bin allerdings davon überzeugt, dass in jeder Person ein*e Minimalist*in steckt. Denn wie schon der japanische Autor Fumio Sasaki in seinem Buch „Das kann doch weg!“ so treffend formuliert: „Kein Baby kommt mit materiellem Besitz in der Hand auf die Welt. Jeder beginnt als Minimalist. Unser Wert bemisst sich nicht am Wert unseres Besitzes. Dinge können uns nur vorübergehend glücklich machen. Unnötige Habseligkeiten stehlen uns nur unsere Zeit, unsere Energie und unsere Freiheit. „
Oft merken wir im Urlaub, wenn wir nur einen Koffer voll Dinge dabeihaben, dass diese eigentlich ausreichen und es uns erleichtert, weniger Sachen um uns herum zu haben, die unsere Aufmerksamkeit fordern. Im Dialog spüre ich bei vielen Menschen eine große Sehnsucht nach „Weniger“: weniger Sachen, weniger Aktivitäten, weniger Arbeit, weniger Zwängen. Aber es ist eben immer noch nicht üblich, dieser Sehnsucht nachzugehen. Besonders in meinen Minimalismus-Workshops beschreiben viele Teilnehmende, wie gefangen sie im „Hamsterrad“ sind und sich in gesellschaftlichen und vor allem familiären Strukturen wie verhaftet fühlen. Das fängt bei sowas wie Geschenken an: Haben Sie mal versucht, keine Geschenke zum Geburtstag oder zu Weihnachten zu bekommen? Auch wenn es natürlich nett gemeint ist, fällt es sogar unseren Liebsten oft nicht leicht, zu akzeptieren, dass man sich von dem Konsumzwang lösen möchte.
Entsprechend ist meine persönliche Erfahrung, dass es schon in gewisser Weise einen rebellischen Geist erfordert, sich von den Strukturen wie dem Konsumzwang, in den wir sozialisiert wurden, und Erwartungen an ein konventionelles Leben zu befreien. So ist es auch immer noch nicht üblich traditionelle Arbeits- oder Wohnkonzepte zu hinterfragen. Ich denke aber, dass es dringend nötig ist. Wir müssen uns mehr Fragen stellen. Was möchte ich wirklich? Wie setze ich meine Ressourcen ein? Was bringt uns als Gesellschaft voran? Minimalismus kann eine Inspiration dafür sein.
Die Fragen stellte Marvin Dreiwes.