Vor 100 Tagen war ich das letzte Mal bei einer Veranstaltung. Es war ein Vortrag von Niko Paech. Seither muss ich immer wieder intensiv über das Modell von der Postwachstumsökonomie, das er entwickelt hat, nachdenken. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Ideen inspirieren und motivieren mich in meiner Arbeit als Aktivistin sehr. Warum? Darüber habe ich einen Text für euch verfasst. Dieser Text ist in gekürzter und abgewandelter Form in der Anthologie „Echoräume des Schocks“ im Dietz Verlag erschienen.
Hannover, 21.06.2020
Wer willst du gewesen sein?
Wie mich ein Vortrag, die Corona-Zeit und eine einfache Frage zu mehr aktivistischen Minimalismus inspirieren
Es ist der 12. März 2020. „Nennt mich einfach Niko”, eröffnet Professor Paech seinen Vortrag in einem Kulturzentrum in Hannover. Ich hatte mich wochenlang auf den Abend mit der Koryphäe auf dem Gebiet der Umweltökonomie und Nachhaltigkeitsforschung gefreut. Zu dem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, dass es für die nächsten Monate der letzte Besuch einer Veranstaltung sein wird und die Gedanken der Postwachstumsökonomie noch lange intensiv in mir nachhallen.
„So wie es im Moment aussieht, endet unser Umgang mit den Ressourcen dieser Erde zwangsläufig in einer ökologischen Krise. Diese ökologische Krise wird aber nur eine von vielen Symptomen sein, die unser Fortschritts- und Steigerungswahn unweigerlich mit sich bringt”, erläutert Niko Paech zu Beginn der Abendveranstaltung. „Denn eines ist klar: Es gibt kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten.“
Seine Theorie stellt der Volkswirt auf vollgeschriebenen Folien ausführlich dar. „Die Auswirkungen unserer Lebensweise bergen langfristig enorme Risiken für Liberalismus, Demokratie und Zivilisation. Klimawandel, Artenschwund, Bodenzerstörung, übermäßiger Elektroschrott, Plastikmüll und Lichtsmog bedingen langfristig Knappheit an Energie, Fläche, Wasser und Mineralien und führen unter anderem zu Gerechtigkeitsdefiziten, Erschöpfung, Reizüberflutung und Konsum-Burn-Out.”
Von so vielen düsteren Schlagworten fühle ich mich buchstäblich erschlagen. Ein Glück widmen sich die nächsten zwei Drittel der Ausführungen Lösungsansätzen und Vorschlägen wie uns eine Transformation gelingen kann. Die Folien fotografiere ich ab, damit ich sie mir noch mal in Ruhe anschauen kann. Nach dem Vortrag fahre ich voller interessanter und aufwühlender Gedanken mit dem Rad nach Hause. Niko Paech, der an der Bushaltestelle wartet, um zurück nach Oldenburg zu fahren, winkt mir zurück, als ich die Hand hebe.
Sich von Dingen befreien
Ich beschäftige mich nun schon seit rund zehn Jahren mit den Themen Nachhaltigkeit und Konsumvermeidung. Vor allem innerlich und rein praktisch. Dabei ziehe ich Nachhaltigkeit als theoretisches Konstrukt immer Mal wieder zu Rate. Die Anregung langfristig zu denken und ökonomische, ökologische und soziale Aspekte des eigenen Handelns gleichermaßen zu betrachten, hilft mir oft bei Entscheidungen.
Als ich damals anfing, freiberuflich als Aktivistin und Künstlerin zu arbeiten, kam mir – ohne ein fixes Einkommen – schnell die Erkenntnis: Wenn ich nicht so viel Geld ausgebe, muss ich nicht so viel Geld verdienen. Und wenn ich weniger Erwerbsarbeit nachgehen muss, kann ich mein Leben freier gestalten.
Zudem war mir und einigen Freundinnen aufgefallen, dass wir alle eine Reihe ungenutzter Sachen in unserem Besitz haben. Ob ungetragene Kleidungsstücke, ungelesene Bücher, ein unbenutztes Waffeleisen oder eine ungeliebte Vase – sie sind für uns am Ende nur Staubfänger, die sich in unseren Wohnungen breitmachen. Warum sollten wir uns nicht von den Dingen befreien, vor allem, wenn wir damit auch noch anderen eine Freude machen können? Ich fing an, Tauschmärkte für neuwertige und selbstgemachte Dinge zu organisieren und nannte ihn FIRST HAND Markt. Die Leute bringen zu den Märkten so massenweise Dinge mit, dass wir nach den Veranstaltungen immer ganze Wagenladungen dem sozialen Kaufhaus spenden können.
Minimalismus als Dach
Vor rund fünf Jahren habe ich dann Minimalismus als Lebensstil für mich entdeckt. Mir ist plötzlich aufgegangen, dass es bei Minimalismus nicht darum geht, nur 100 Dinge zu besitzen und in einer leeren Wohnung in einer Hängematte zu schlafen, sondern dass der Leitgedanke ‚Fokus auf das Wesentlich‘ eine wundervolle Inspiration in jeder Hinsicht ist. Wenn ich mich auf ‚das für mich Wesentliche‘ konzentriere, gehe ich bewusst mit meinen eigenen Ressourcen und mit denen meiner Mitwelt um.
Das Charmante dabei ist: Was für mich wesentlich ist, bestimme ja ich selbst. Wenn das meine Spielesammlung, mein zweites Paar Laufschuhe oder meine Pflanzen sind, dann spricht das nicht gegen eine minimalistische Einstellung. Es geht darum, in unserer konsumorientierten Überflussgesellschaft sich selbst zu spüren, die eigenen Bedürfnisse herauszufinden und eben nur diese zu erfüllen. Wenn ich bewusst konsumiere und handele, übernehme ich für mein eigenes Leben und gleichermaßen gesellschaftliche Verantwortung. Minimalismus funktioniert seither wie eine Art Dach für mich, unter dem ich sämtliche Lebensbereiche und alle meine Interessen betrachten kann.
„Grünes Wachstum“ ist Teil des Problems
Inzwischen organisiere ich den Minimalismus-Stammtisch in Hannover, gebe Workshops zum Thema und habe einen Podcast unter dem Titel Minimalismus JETZT! gestartet. Mein Fokus liegt dabei auf der praktischen Umsetzung im täglichen Leben.
So hat es etwas gedauert bis ich realisiert habe, dass „grünes Wachstum” nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist. Es ist kein ökologischer Gewinn, wenn Menschen auf LED Lampen umstellen, und dann fünfmal so viel beleuchten oder wenn Autos kraftstoffärmer fahren, dafür aber viel häufiger genutzt werden. Auch massenweise bio-faire Kleidung zu kaufen ist nicht wirklich nachhaltig. Verbesserungen und Einsparungen auf der einen Seite führen wie Studien zum Rebound-Effekt zeigen, nicht selten zu dem psychologischen Phänomen der moralischen Lizenzierung. Das bewirkt, dass auf der anderen Seite insgesamt mehr Ressourcen verwendet werden. So verhindert grünes Wachstum an viel zu vielen Stellen, dass sich wirklich etwas ändert.
Die Party ist vorbei
Es geht um einen Konsumstopp. Um ein Innehalten. Oder wie der Soziologe Harald Welzer in dem Zusammenhang mal so schön sagte: „Die Party ist vorbei!” Dieser Satz hat sich bei mir eingebrannt. Wir müssen uns alle einschränken, wenn wir wirklich einen Wandel bewirken wollen – und dieser Wandel ist mit Verzicht verbunden.
Niko Paech beschreibt es bei seinem Vortrag so: „Was wir brauchen ist eine Überwindung des Wachstumsdogmas, ein verändertes Gerechtigkeitsverständnis und eine Transformation der Gesellschaft.” Er schlägt vor, dass wir regulär Erwerbsarbeit in Teilzeit einführen. Diese sollte regionale Ökonomie fördern. Den anderen Teil unserer Arbeitskraft nutzen wir nach den Prinzipien der Suffizienz und Subsistenz. „Entrümpelung, Entschleunigung und Reizüberflutung vermeiden” hat Niko Paech auf der Folie hinter dem Begriff Suffizienz notiert. Er meint in der Nachhaltigkeitsforschung das Bemühen um einen möglichst geringen Rohstoff- und Energieverbrauch.
Subsistenz ist ein philosophischer Begriff für das Prinzip der Selbsterhaltung. Subsistenz ist alles, was materiell und sozial zum alltäglichen Überleben benötigt wird: Nahrung, Kleidung, Wohnraum sowie Fürsorge und Geselligkeit. Er fasst also Eigenproduktion durch Anbau, Handwerk und Erziehung sowie Nutzungsdauerverlängerung von Gütern durch Instandhaltung und Reparatur, Nutzungsintensivierung durch Gemeinschaftsnutzung sowie Leistungstausch in sozialen Netzen und gemeinnützige Arbeit zusammen.
Sich in Teilzeit dem eigenen Wohlbefinden und der Selbstversorgung und -erhaltung zu widmen? Für mich klingt das nicht nach Verzicht, sondern nach einer enormen Bereicherung. Insbesondere, wenn alle um mich herum Zeitwohlstand genießen und die Gemeinschaft im Blick haben. Nachdem ich die kompliziert klingenden Fachbegriffe durchschaut habe, gerate ich ins Träumen: Das ist eine Gesellschaft, in der ich gerne leben würde.
Sich auf den Weg begeben
Doch wo können wir mit der Transformation anfangen? Die Antwort der Postwachstumsökonomie: Luxus vermeiden. Niko Paech hat eine Tabelle mit der Logik effizienter Reduktion erstellt. Dort sind Beispiele für Grundbedürfnisse und Luxus einander gegenübergestellt. Auf Luxus, der einen hohen Schaden anrichtet, sollten wir verzichten, wie etwa Kreuzfahrten, SUVs, Zweitwagen, Ferienhäuser und unnötige Flugreisen. Notwendiges wie Berufsverkehr und Elektrizität sollten wir reduzieren.
Bei unseren Grundbedürfnissen wie Textilien, Wohnraum und Kommunikationsmitteln, aber auch bei kleinerem Luxus wie Bücherkauf, Einsatz von Elektrogeräten, Fernsehen und Wirtshausbesuchen, die einen eher geringfügigen Schaden anrichten, schlägt er Selbstbegrenzung vor. Mir scheint, Niko Paech hat eine ähnliche Einstellung wie ich im Minimalismus: Es geht nicht darum, direkt alles perfekt zu machen, sondern sich auf den Weg zu begeben.
Veränderung sind möglich, Wandel nötig
Wenige Tage nach der Veranstaltung steht die Gesellschaft still. Der Shutdown aufgrund der Corona-Pandemie ist da. Trotzdem fühlt es sich für mich in den kommenden Wochen immer mal wieder so an, als wenn wir uns gleichzeitig auf den Weg begeben haben: Über 10 Millionen Menschen in Deutschland sind in Kurzarbeit. Niemand geht in der Stadt shoppen. Überall gibt es selbst organisierte Einkaufshilfe für ältere Nachbarinnen und Nachbarn. Menschen nähen Schutzmasken und verschenken sie. Der Fleischkonsum sinkt. Wir alle verzichten über Monate auf Barbesuche. 20 Prozent der Deutschen fahren mehr Fahrrad, und mehrere Freundinnen erzählen mir, wie schön sie das finden, dass keine Kondensstreifen mehr am Himmel zu sehen sind.
Zweifelsohne gibt es viele problematische Effekte der Maßnahmen gegen die Pandemie. Besonders problematisch: soziale Ungleichheiten verstärken sich. Dennoch sind auch eine Reihe plötzlicher vorteilhafter Entwicklungen zu beobachten, die unter anderem Umweltzschutz, Wissenschaft und Aktivismus schon lange propagieren. Wie können wir diese positiven Veränderungen langfristig integrieren?
Impulse aus der Wissenschaft
In Diskussionen im Freundeskreis höre ich oft, dass es Aufgabe der Politik sei, Wandel anzustoßen, und nehme eine skeptische Position ein. Niko Paech formuliert, was ich schon länger geahnt habe, aber nicht so analysieren und auf den Punkt bringen konnte: „Es muss eine Transformation jenseits handlungsunfähiger Politik geben. Ohne vorherigen kulturellen Wandel ist auch kein politischer Wandel denkbar, weil sich keine demokratische Regierung ungestraft gegen die Lebensrealität der Wählermehrheit wenden kann.“ Sein Fazit: „Wir können nicht erwarten, dass die Politik Motor von einschneidenden Veränderungen wird.”
Ich bin immer wieder fasziniert, wie viele wertvolle Erkenntnisse die Wissenschaft für die Praxis bereithält. Gleichzeitig bin ich oft erstaunt, wie wenig sie verbreitet sind und wie wenig wir uns die Forschungsergebnisse als Impulse für unser gesellschaftliches Handeln zu Nutze machen.
Eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft
Die Diffusionsforschung zeigt, dass es Individuen bedarf, welche die Veränderung verkörpern, die sie propagieren, und andere anstiften, es ihnen gleich zu tun. Diese Erkenntnisse wecken mein Verantwortungsgefühl, bestärken mich gleichzeitig und machen mir Mut. Ich werde Minimalismus als Inspiration für Konsumvermeidung, einen bewussten Umgang mit Ressourcen und ein bereicherndes Miteinander weiter und mit noch mehr Nachdruck in die Welt hinaustragen. Er scheint mir eine geeignete Methode zu sein, wie sich Einschränkungen als Bereicherung erleben lassen. Bei vielen Menschen, die mir begegnen, spüre ich eine Sehnsucht nach Weniger – weniger Reizen, weniger Dingen, weniger Konsum – und den Wunsch nach mehr aktivem Leben. Wir sind alle gemeinsam für die Welt, in der wir leben, verantwortlich. Aber auch für unser eigenes Leben.
Oft denke ich an Harald Welzers inspirierende Frage, die er mit der FUTURZWEI Stiftung aufmacht und verbreitet: „Wer willst du gewesen sein?“ Am Ende meines Lebens möchte ich darauf antworten können: „Ich habe mein Bestes gegeben, um zu einer nachhaltigen Entwicklung unserer Gesellschaft beizutragen.“